German Translation/Auf Deutsch

A book by Alexandra Lehmann

Based on the True Story about Sophie Scholl and Fritz Hartnagel by Alexandra Lehmann

From the English by Heinz Tophinke

Exzerpt aus Kapitel 6:
[Der Drang zum Handeln]

München, Mai/Juni 1942

Mit Hans’ Schlüssel sperrte Sophie auf und ging geradewegs zu einem Stapel Bücher, die planlos in der Ecke des Wohnzimmers lagen. Sorgfältig darauf bedacht, nichts durcheinander zu bringen, las sie rasch die geknickten Buchrücken. Schiller. Goethe. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, öffnete das Schauspiel von Goethe und blätterte zu den unterstrichenen Seiten. Zweiter Akt, vierte Szene. Sophie las die Passage laut:

[Des Epimenides Erwachen]

 

Hoffnung:
Nun begegn’ ich meinen Braven,
Die sich in der Nacht versammelt,
Um zu schweigen, nicht zu schlafen,

Und das schöne Wort der Freiheit
Wird gelispelt und gestammelt,
Bis in ungewohnter Neuheit
Wir an unserer Tempel Stufen
Wieder neu entzückt es rufen:

Freiheit! Freiheit!

 

Zwischen den angegilbten Seiten des Buches entdeckte sie ein einzelnes Blatt Papier. Beim Lesen begannen ihre Hände zu zittern. Es war Hans’ Handschrift. Ein geistloses und feiges Volk verdient den Untergang. Vergesst nicht, dass ein jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt.

Eine Woge von Emotionen durchflutete sie. Das war eine Art schriftlicher Protest gegen Hitler. Was hatten Hans und Alex damit vor? Sophie war wie betäubt und wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Vor ein paar Tagen hatte sie mitgehört, wie Alex am Telefon mit seinem Nachbarn gesprochen und dabei vorgegeben hatte, ein Offizier der SS zu sein. Er hatte darum gebeten, eine Schreibmaschine benutzen zu dürfen, und behauptet, er müsse einige Mitteilungen nach Berlin schicken. Dafür wollte er die Maschine bestimmt nicht. Sie wollten offenbar dies abschreiben – aber um was damit zu tun?

In diesem Augenblick hörte sie Schritte.

Hans öffnete die Tür und fand Sophie am Boden sitzend, seine Bücher um sie herum verstreut. Er wurde blass. Unausgesprochene Fragen erfüllten den Raum. Sein Blick wurde eisig. Sie hatte eine Schwelle überschritten, und es war zu spät, um eine Entschuldigung zu erfinden, die die Situation vielleicht weniger schmerzhaft gemacht hätte.

Sophie sagte nichts, sie sah nur zu ihrem Bruder auf.

„Verdammt, Sophie!“ Hans war wütend. „Hast du denn keine bessere Meinung von dir?“ Er griff nach einem medizinischen Text auf seinem Schreibtisch, rügte seine Schwester, weil sie die Vorlesung nicht besucht hatte, und schlug dann ohne ein weiteres Wort die Tür hinter sich zu.

Sophie seufzte tief. Die Scham und Verlegenheit, beim Schnüffeln in Hans’ Sachen erwischt zu werden, schien nicht so schwerwiegend zu sein wie das, was sie gelesen hatte. Hans und Alex waren also schließlich und endlich im Begriff, etwas zu unternehmen. Fritz hatte ihr während des ganzen Krieges immer wieder davon geschrieben. Aus seinen Briefen wusste sie, dass die SS in Amsterdam demonstrierende holländische Zivilisten erschossen hatte, sie wusste vom Plan der SS, schwarze Kriegsgefangene in Frankreich zu töten, und sogar von ihren so genannten Maßnahmen zur „Bevölkerungskontrolle“. Es waren nicht nur Gerüchte gewesen. Sie wusste es. Sie wusste es, und die Wahrheit hatte ihr Leben unfassbar gemacht. Es gab Morgen, an denen sie den Kopf nicht vom Kissen hochbrachte, so sehr war sie von Schuld erfüllt. Aber Hans würde niemals zulassen, dass sie ihnen bei ihrem Tun half. Er würde ihr sagen, das sei für eine Frau zu gefährlich. Alex und Hans begingen Verrat, und für Verrat konnte man mit dem Tod bestraft werden.

Sie würde warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war, ihn zu fragen. Sie würde Hans im Beisein von Alex fragen. Dann hatte sie noch eine bessere Idee. Sie konnte ihnen beweisen, dass sie stark und klug genug war, um mitzumachen. Ihr Herz begann zu rasen. Sie wollte so sehr mitmachen, dabei sein, wie nichts anderes, das sie je gewollt hatte – sie konnte dies nicht einmal mit ihrem Wunsch vergleichen, mit Fritz zusammenzusein.

Sophie begann erneut zu lesen und dachte dabei immer aufgeregter über eine Möglichkeit nach, etwas zu tun. Sie konnte Hans verstehen. Sind die Deutschen so tief in einen Todesschlaf gesunken, dass sie nicht mehr aufwachen können? Warum sind die Deutschen so apathisch angesichts all dieser entsetzlichen und unmenschlichen Verbrechen?[1]

Es ist nicht nur Mitgefühl für die Opfer der kriminellen Clique, was fehlt. Und nicht nur Mitgefühl muss er  spüren, sondern er wird Schuld fühlen. Er ist schuldig, diese „Regierung“ weiterhin existieren zu lassen, und er ist sogar schuldig, sie überhaupt existieren zu lassen! Schuldig! Schuldig! Schuldig! Aber es ist nicht zu spät, diese widerliche und ungehörige Regierung aus der Welt zu entfernen. Wenn er nun handelt, kann er damit aufhören, noch mehr Schuld auf sich zu laden. Es ist die Pflicht jedes Deutschen, nun, da er weiß, was die Nationalsozialisten tun, es ist seine einzige und wichtigste Pflicht, diese Bestien zu vernichten.

 

In dieser Nacht hatte sie nach einem vergeblichen Versuch zu studieren einen Traum, der sie überzeugte. Gott klopfte ihr auf die Schulter. Nahm sie in die Pflicht. Sie wachte gestärkt auf. Heute würde sie aus der Universität Papier stehlen. Sie würde Hans beweisen, dass sie tapfer genug war. Sie brauchten mehr Papier. Sie mussten mehr Flugblätter schreiben und verteilen. Die Nazis kontrollierten den Papierverbrauch so genau, dass man einen speziellen Coupon brauchte, um große Mengen zu kaufen. Während Sophie zum erstenmal in ihrem Leben zur Universität radelte, hatte sie das Gefühl, dass eine wirkliche Veränderung möglich war. Die Pedale drehten sich wie von selbst, und mit ungeahnter Geschwindigkeit hatte sie nach wenigen Minuten das biologische Institut erreicht.

 

Die Flure waren verlassen. Sophie wusste dass der Professor den Vorratsschrank außerhalb des Vorlesungssaals nicht abschloss. Die Türen waren sogar nur angelehnt. Sie machte sich bereit. Sie musste in Sekundenschnelle eine Menge Papier stehlen.

Mit einem Blick nach links und rechts öffnete sie die Schranktüren und stopfte ihren Rucksack so voll, dass sie ihn gerade noch wieder verschließen konnte. Dann schaute sie sich erneut um, und da niemand zu sehen war, fasste sie sich. Mit einem tiefen Atemzug strich sie sich durch das lange Haar. Anstatt hinaus zu laufen, was nur Aufmerksamkeit erregt hätte, schritt sie ruhig aus dem alten, neoklassizistischen Gebäude.

Adrenalin schoss ihr durch den ganzen Körper. Während Sophie hastig die Leopoldstraße entlang fuhr, ging sie in Gedanken die Ereignisse durch, die zu dieser Aktion geführt hatten. Mit sechzehn hatte sie endlich bei einem Treffen des Bundes Deutscher Mädchen den Mund aufgemacht; sie hatte im Lager des Reichsarbeitsdienstes die Bibel gelesen, obwohl es verboten war, hatte die ganze Zeit über die so genannte ideologische Unterweisung abgelehnt, mit Fritz über seine Rolle in Hitlers Armee debattiert, war heimlich zum Orgelspielen in die Blumberg-Kapelle gegangen, hatte sich geweigert, bei der Winterkollekte zu spenden, hatte zusammen mit ihrem Vater verbotene Radiosender gehört und mit Carl Muth über Theologie diskutiert.

Irgendwie hatte all dies zu diesem Augenblick geführt. Sie war auf diese Arbeit vorbereitet. Sie fühlte sich dazu berufen. Sophie warf einen Blick hinter sich, um zu sehen, ob ihr Rucksack noch da war. Morgen würde Fritz nach München kommen, um sich zu verabschieden, deshalb wollte sie heute Nachmittag studieren, damit sie den Tag mit ihm verbringen konnte. Sie würde ihm ihr Geheimnis nicht verraten. Zum erstenmal seit Beginn ihrer Beziehung würde sie sich ihm nicht anvertrauen können. Sie wusste, dass das Verschweigen der Wahrheit dem Misstrauen Tür und Tor öffnen würde. Es war Fritz, der sie das gelehrt hatte. Trotzdem konnte sie es ihm nicht sagen. Obwohl er wieder an die russische Front zurückging. Obwohl es seine Berichte aus erster Hand gewesen waren, die ihr die Sicherheit gaben, dass das, was sie tat, das Einzige war, das man tun konnte. Jetzt. In München. Für Deutschland.

 

Sie hatten sich im Botanischen Garten, unweit von Schloss Nymphenburg, verabredet, wo Schwäne paarweise auf dem Kanal schwammen, der zu dem majestätischen, an Versailles erinnernden Palast führte. Statuen aus der griechischen Mythologie und immergrüne Pflanzen säumten die Kieswege des formalen Gartens. Sophie radelte über die kopfsteingepflasterte Straße zum Hintereingang des Gartens. Sie freute sich darauf, exotische Pflanzen zu betrachten. München besaß einen der schönsten botanischen Gärten Europas.

Im Garten selbst fühlte sie sich gar nicht mehr wie in Deutschland. Dies war anders als alles, was sie kannte. Der Garten war wie ein Sinnbild für eine internationale Gemeinschaft, verschiedene Bäume derselben Spezies co-existierten und gediehen vollkommen friedlich miteinander. Sophie las die lateinischen Namenstäfelchen neben den zahlreichen Nadelbäumen und schaute dann auf, um ihre Unterschiede zu studieren. Sie sammelte sich, konnte jedoch nicht dem Impuls widerstehen, schneller den Kiesweg auf den Teich zu zu fahren, an dem sie sich treffen wollten. Als sie ihn erblickte, hielt sie den Atem an.

Fritz, in seine graue, abgetragene Uniform gekleidet, erwartete sie lächelnd bei einem Rhododendron-Busch, der gerade die ersten weißen Knospen zeigte. Sophie sprang von ihrem Rad, und sie umarmten und drückten sich herzlich. Seit ihrem ersten Treffen hatte sich zwischen ihnen nicht viel verändert. Das Gefühl, sich nahe sein zu wollen, war durch die Zeit des Getrenntseins nur gestärkt worden. Sogar ihre ständigen Diskussionen über den Krieg und Fritz’ Rolle dabei hatte das Band zwischen ihnen gestärkt.

Sie hielt ihr Versprechen. Sie hatte ihn geliebt wegen des Guten in ihm. Wegen dem, was ihn zu einem Menschen machte.[2] In diesem Augenblick erschien es ihr nicht einmal unmöglich, einen Soldaten zu lieben, der schicksalhaft Hitlers verabscheuungswürdigem Plan ausgeliefert war. Der Krieg musste scheitern. Es war ihnen schließlich beiden klar geworden, dass eine Niederlage im Krieg keine Niederlage Deutschlands war, sondern die des Nationalsozialismus, und das waren zwei grundverschiedene Dinge. Fritz war im Begriff, sich Millionen dem Untergang geweihter Soldaten anzuschließen. Sophie fiel es schwer, ihn gehen zu lassen.

Er ergriff ihre Hand, und sie begannen ohne ein Wort, die kleinen Kieswege entlang zu spazieren, vorbei an den verschiedenen Blumen, die in Blüte standen oder gerade zu blühen begannen, und blieben zwischendurch stehen, um die dazugehörigen weißen Täfelchen zu lesen. Wie immer würde ihnen das Reden leichter fallen, wenn sie zusammen spazieren gingen.

Cadet Fritz Hartnagel attended Potsdam Military Academy. Alexandra Lehmann

Sie schlenderten durch das Arboretum und bewunderten die weißen Birken aus Nord- und Südamerika. Sophie sagte etwas, und Fritz erkannte, dass die Bedeutung dieser Worte zu ergründen vielleicht sein Leben lang dauern würde. Er hatte diese Eingebungen Sophies längst akzeptiert, er mochte sie inzwischen sogar. Vielleicht würde er sie ja eines Tages wirklich begreifen können. Sie blickte verloren auf eine Blutbuche, deren Äste nach unten wuchsen und den Boden berührten, und sagte dann: „Ich möchte einfach nur ein Stück Baumrinde sein – eine seltsame Vorstellung, aber sie verfolgt mich seit Jahren.“[3] Dann schaute sie in die Ferne und ging weiter. Sie setzten sich auf eine Bank neben einigen Felsen, die mit altem Moos und winzigen, mehrfarbigen Wildblumen bewachsen waren.

Sophie hatte nicht die Kraft, ihm von ihren Kursen, den Professoren oder der Universität zu erzählen. Oder gar von den Abenden mit Hans, Schurik, Christoph, Willi und Traute, wenn sie diskutierten und debattierten, was sie ins nächste Flugblatt schreiben sollten. Sie erzählte ihm nichts von der wichtigsten Sache, die sie in ihrem ganzen Leben gemacht hatte.

Stattdessen sprach sie über ihren Kontakt mit Professor Muth und ihr neues Interesse am Katholizismus. Sie wiederholte etwas, das Willi gesagt hatte, und erklärte Fritz, er sei der aufrichtigste von allen.

In Wirklichkeit bedeutet Christ zu sein ein schwieriges und ungewisses Leben, ein Leben voller Bürde, in dem man ständig neue Herausforderungen zu meistern hat.

Fritz hörte aufmerksam zu. Während er in Frankreich stationiert war, hatte er bemerkt, dass sein Glaube an Gott, der durch seine Liebe zu Sophie gestärkt wurde und auch durch Sophie existierte, zwei verschiedene Dinge waren. Um sie herum stand der Garten in der Blüte des Frühlings. Er klammerte sich an ihre Worte, als seien sie ein Seil, an dem er über dem Abgrund hing. Unter seinem gefassten Äußeren brodelten tosende Wasser, die im Begriff waren, ihn zu verschlingen. Er würde auf seinen Glauben an sie beide bauen, um zu überleben, und er brauchte diesen Glauben auch, um die richtigen Entscheidungen für seine Männer zu treffen.

Sophie unterbrach sich plötzlich, so wie sie es oft tat. Er wandte sich ihr zu. Sie hatten beide den gleichen Gedanken.

„Es ist durchaus möglich, nicht wahr, dass wir uns vielleicht nie wieder sehen?“ Doch sie bedauerte ihren Zweifel augenblicklich und fuhr fort: „Verzeih mir bitte. Es tut mir leid. Natürlich werden wir uns wiedersehen. Lass uns nicht allzu ernst werden mit der Religion oder gar mit dem Krieg. Können wir nicht einfach alles vergessen, nur für einen Augenblick, hier an diesem Ort, wo die Bäume die anscheinend einzigen Wesen sind, die noch im Frieden leben?“

Fritz nickte mit einem Lächeln. Sie betraten das Gewächshaus mit seinen weißen Stahlstreben, das tropische Pflanzen, Obstbäume, seltene Orchideen und riesige Seerosen beherbergte. Die feuchte Luft roch angenehm. Ein älterer Gärtner in einer blauen Latzhose ging an ihnen vorüber und grüßte sie mit dem alten bayrischen „Grüß Gott“ anstatt mit „Heil Hitler“, lächelte ihnen zu und wässerte prächtig violette Pflanzen.

„Zu viel Wasser ist so tödlich wie zu wenig“, sagte er und schob dann seinen Karren weiter den Pfad entlang. Sophie und Fritz setzten sich in das Café vor den vielfarbigen Rosenbeeten, deren Duft sie umhüllte. In den Ecken des mit Buchsbäumen bepflanzten Gartens standen weiße Statuen pummeliger Engelchen. Dieses Paradies war das Resultat der Koexistenz von Kostbarkeiten der Natur aus der ganzen Welt. Sie fassten sich an den Händen, lauschten den Vögeln und ließen sich von der Sonne wärmen.

Dann war es Zeit. Sein Zug nach Frankreich ging in fünfundvierzig Minuten. Spätabends würde er in Le Mans sein und am Morgen an den Don in Stalins Russland aufbrechen. Sophie hatte ihn nicht nach einem einzigen Detail zum vermutlichen Vordringen auf Moskau gefragt. Dafür war er dankbar. Er hätte ihr nur wieder sagen müssen, dass seine einzige Pflicht seinen Männern gegenüber bestand – was bedeutete, ihr Leben zu erhalten.

Er sagte Sophie, sie solle sich um ihre Mutter kümmern, der es nicht gut ging. Er versuchte noch immer, eine Begnadigung für ihren Vater zu erwirken, der noch zwei Monate im Gefängnis bleiben musste. Fritz war ein Teil der Familie Scholl geworden und fühlte sich ihr auf eine Weise verbunden, die er sich selbst nicht erklären konnte. Er umfasste Sophies Schultern und blickte ihr gerade ins Gesicht. Er wollte nicht, dass sie ihn zum Bahnhof begleitete. Sie hatten sich schon zu oft an allen möglichen Bahnhöfen in Deutschland voneinander verabschiedet. Er gestand sich ein, dass er genug davon hatte, sie allein unter all den anderen Frauen stehen zu sehen – Ehefrauen von Soldaten, Kindern, Müttern, Schwestern, Tanten, Großmüttern, Freundinnen. Es war ihm lieber, wenn sie noch eine Weile im Garten blieb, sich an dem Springbrunnen freute und zwischen ihren Lieblingsblumen saß.

Er bat sie, für ihn zu beten.

„Ich verspreche dir nicht, dass ich wiederkommen werde, Sophie“, murmelte er. Dann küsste er sie, wandte sich abrupt ab und ging, ohne noch einmal zurückzublicken. Sophie schaute ihm nach, bis er verschwunden war. Sie weinte nicht. Ein Teil von ihr hatte solche Angst vor der Zukunft, dass es zu sehr schmerzte, so tief, so unerklärlich zu fühlen – und dass dies, obwohl sie es nicht denken durfte, sich nie zu denken erlauben durfte, das letzte Mal gewesen sein könnte.

Hans, Alex, Willi und Christoph trafen sich fast jeden Abend im Studio ihres Freundes in der Leopoldstraße. Heute hatten sie einen bekannten Münchener Schauspieler zu Gast. Hans weigerte sich, darüber zu sprechen, was Sophie herausgefunden hatte. Er benahm sich, als wüsste sie nichts. Er lud sie immer zu diesen Abenden ein, doch sie wusste, dass er damit beschäftigt sein würde, Gisela und Traute zu unterhalten. An letzterer schien er seit Kurzem etwas Interesse verloren zu haben. Es gefiel ihm, wenn Gisela mit ihren hellblauen Augen leicht ihre beneidenswerte blonde Mähne schüttelte und dabei unbeschwert lachte. Sie lachte wesentlich mehr als seine Freundin, die etwas zu sehr zum Nachdenken neigte.

Sophie versuchte, dem nicht zuviel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie ging in dem riesigen Studio umher, bestaunte die umfangreiche Bibliothek und die übergroßen Fenster. Blau gedruckte Architekturpläne füllten Körbe und bedeckten jede freie Fläche an den Wänden. Das Studio gehörte einem gewissen Manfred Eickemeyer, einem Architekten, der im besetzten Polen arbeiten musste. Dann kam ihr ein Gedanke. Er musste es gewesen sein. Es musste Herr Eickemeyer gewesen sein, der ihrem Bruder von den in dem Flugblatt erwähnten ermordeten Juden erzählt hatte, das sie gefunden hatte. Alles begann, zusammenzupassen. Nach der Lesung zog Sophie ihren Bruder zur Seite und rettete ihn davor, mit Gisela und Traute gleichzeitig fertig werden zu müssen.

„Ich habe etwas für dich, Hans“, flüsterte sie ihm zu und öffnete ihren Rucksack. Hans stockte der Atem; es kam ihm so unglaublich vor, dass er das Papier berühren musste. Sie hatten ihr letztes gerade aufgebraucht. Dies war genau, was sie benötigten, um neue Flugblätter drucken zu können. Er musterte seine Schwester mit einem durchdringenden Blick, denn er wusste, was sie ihn damit fragte. Niemals würde er die Verantwortung für die Sicherheit seiner kleinen Schwester übernehmen können. Was sie taten, war einfach viel zu gefährlich.

Dann, ohne zuzulassen, dass er etwas sagte, holte Sophie etwas aus dem Rucksack heraus. Es war ein Feldpostbrief aus dem russischen Donezbecken. Fritz war noch nicht einmal einen Monat dort.

„Hans, ich muss dir vorlesen, was Fritz mir gerade geschrieben hat. Ich weiß, dass es stimmt, was passiert. Ich weiß es schon lange.“ Hans sah sie verblüfft an.

Sophie räusperte sich und begann mitten im Brief: „Gestern musste ich wieder einen Abend in der Offizierskantine über mich ergehen lassen. Es ist wirklich zu schlimm, all der Wein, der sinnlos vergeudet wird, damit sie alle so schnell wie möglich ‚in Stimmung’ kommen – die sich dann in Zoten, Lärm und zerbrochenen Gläsern ausdrückt. Wie arm diese Menschen sind, dass dies ihre einzige Freude ist, deren sie fähig sind …“ Sie verstummte. Dies war nicht der Teil, den ihr Bruder hören sollte, doch den nächsten Satz auszusprechen war nicht leicht. Sie lebte nun schon seit Jahren mit diesen Briefen und hatte ihren Inhalt nie jemandem mitgeteilt. Sie atmete tief und sprach die nächsten Worte sorgfältig und mit Nachdruck aus.

Es ist entsetzlich, mit welchem Zynismus und welcher Kaltblütigkeit mein Kommandeur davon spricht, dass alle Juden im besetzten Russland ermordet werden.

Hans verbarg das Gesicht in den Händen. Sophie las weiter. „Er ist noch dazu voll von der Rechtmäßigkeit dieses Tuns überzeugt.“[4]

Sie faltete den Brief langsam wieder zusammen und wartete.

Zunächst wusste Hans nicht, was er sagen sollte. Er erwiderte stumm ihren Blick. Manchmal wurden die wichtigsten Vereinbarungen nur durch den Kontakt zweier Augenpaare getroffen. Dann berührte er Sophie leicht am Arm, nahm den Rucksack mit dem Papier, das sie so dringend brauchten, und sagte ihr, sie solle am nächsten Morgen ins Studio kommen.

 

[1] Zitat aus Flugblatt 1.

[2] Sophie Scholl an Fritz Hartnagel, 28.Februar 1941.

[3] Sophie Scholl, Zitat datiert

[4] Fritz Hartnagel an Sophie Scholl, 26. Juni 1942.